Die digitale Technologie ist schnelllebig. Immer neue Anwendungen versprechen, unseren Alltag zu erleichtern. Prägt der Mensch die Digitalisierung oder umgekehrt?
Das ist eine philosophische Frage. Ich versuche eine einfache Antwort zu geben: Die Digitalisierung schreitet seit 25 Jahren voran. Anfänglich folgten die Entwicklungen keiner gezielten, strategischen Stossrichtung, das Ziel war schlicht benutzerfreundliche und einfache Lösungen bereitzustellen. Heute ist dies anders: technologische Entwicklungen sind getrieben vom Wetteifern um den Durchbruch bei der künstlichen Intelligenz, Quantentechnologie, Post-Quantum Security. Kommunikation ist heute in Echtzeit möglich, was den Alltag nicht nur erleichtert, sondern auch eine Überflutung an Informationen darstellt, welcher man sich nicht entziehen kann.
Matthias Stürmer, Professor an der Berner Fachhochschule und Leiter des Instituts Public Sector Transformation
Welche Rolle spielt der Staat?
Heute wird zunehmend deutlich, dass es den Staat braucht, um Richtlinien für die neusten Entwicklungen vorzugeben: Seit der rasanten Ausbreitung der Smart Devices kann jede und jeder heute Informationen ungefiltert und unkontrolliert konsumieren und teilen. Wenige Personen erreichen eine breite Masse, so dass Desinformation und Hate Speech heute eine Tendenz darstellen, welche die freie Meinungsbildung gefährden – und damit die Grundlagen unserer Demokratie.
Neben der Regulation braucht es aber auch konkrete, technische Lösungen des Staates. Es ist noch kein Prozess nur mit PowerPoint und PDFs digitalisiert worden. Damit meine ich: Strategien sind nicht ausreichend: Um die digitale Transformation voranzubringen, müssen Bund und Kantone sowie öffentliche Unternehmen auch Software, Daten, KI-Modelle und IT-Infrastrukturen bereitstellen.
Im Sinne eines digitalen Service public?
Ja genau. Es braucht einen starken digitalen Service public. Einerseits sehe ich die Rolle der Verwaltung darin, IT-Infrastruktur anzubieten, beispielsweise eine staatliche elektronische Identität. Darauf aufbauend können bundesnahe Unternehmen den digitalen Service public unterstützen, wie beispielsweise die Post, welche sichere Lösungen für E-Voting oder das elektronischen Patientendossier entwickelt.
Es ist wichtig, bei Behördenleistungen mit hoher Datensensibilität oder politischer Tragweite eine Unabhängigkeit von internationalen Grossunternehmen zu wahren. Diese stellen keine Service public zur Verfügung, sondern sind gewinnorientierte Unternehmen, die jederzeit ihre Dienstleistungen an- und abschalten, sie verändern oder die Bedingungen anpassen können. Der Kauf von Twitter und die Umwandlung in X ist ein anschauliches Beispiel, wie sich private Plattformen je nach Plänen der Eigentümer entwickeln können. Umso wichtiger ist es, dass der Staat seine digitale Kompetenz ausbaut. Je grösser die eigene digitale Kompetenz nämlich ist, desto mehr digitale Souveränität erhält der Staat. Dies schafft Sicherheit und Vertrauen.
Stichwort Vertrauen: Wie steht es um das Vertrauen in den digitalen Staat?
Während die IT beim Bund vor der Pandemie von gescheiterten Projekten gekennzeichnet war, kamen mit der Pandemie zahlreiche erfolgreiche Neuerungen: Da war etwa die Covid App, die in kürzester Zeit entwickelt und breit genutzt wurde. Als Open Source Lösung konnte sie durch den österreichischen Staat weiterverwendet werden. Und die Schweiz wiederum konnte von den Weiterentwicklungen aus Österreich profitieren. Ebenso die Freigabe aller Geodaten als Open Government Data oder die geplante E-ID zeigen, dass der Staat grosse IT-Projekte realisieren kann. Auch die kantonalen Lösungen für die elektronische Steuererklärung sind eine Erfolgsgeschichte. Um das Vertrauen in die digitale Demokratie und Verwaltung zu steigern, sind eine offene Diskussion um Lösungen, Transparenz bei der Entwicklung und natürlich der Schutz der Privatsphäre sowie der Datenschutz fundamental. In diesem Sinn kann der Staat selbst handeln, aber auch staatsnahe Unternehmen wie die Post sind gefragt.
Sie haben erfolgreiche IT-Projekte genannt. Wo besteht noch Handlungsbedarf?
Beim elektronischen Patientendossier stehen wir nicht da, wo wir sein könnten. Zwar wurde das Gesetz vor zehn Jahren lanciert, jedoch ist das elektronische Patientendossier freiwillig und der Staat hatte damals kein Budget für technisch umfassende Implementierungen gesprochen. Dies führte dazu, dass nun zehn Jahre später erst wenige Personen ein elektronisches Patientendossier haben. Damit das EPD seinen Nutzen entfaltet, muss es auf strukturierten Lösungen beruhen. Mit dem Impfmodul sind wir hier beispielsweise auf dem richtigen Weg. Vor dem Hintergrund der stetig steigenden Gesundheitskosten würden sich staatliche Investitionen lohnen. Mit einer konsequenten Digitalisierung des Gesundheitswesens könnte man rund 10% der Gesundheitskosten sparen – das sind rund 9 Milliarden Franken pro Jahr! Wichtig sind nun die finanzielle Förderung durch das Programm DigiSanté des Bundes, eine weitere Harmonisierung der Standards und eine veränderter Nutzungsansatz, wie dies der Bundesrat für die Revision über das EPD-Gesetz vorsieht: Zukünftig sollen alle ein elektronisches Patientendossier erhalten – ausser sie entscheiden sich bewusst dagegen.
Werfen wir einen Blick über die Behördenwelt hinaus – wo steht die öffentliche Verwaltung im Vergleich zu privaten Unternehmen bei der Digitalisierung?
Der Staat hat andere Anforderungen zu erfüllen als private Unternehmen. Der grösste Unterschied ist, dass heute alle digitalen Prozesse auch physisch bereitgestellt werden müssen. Für eine Übergangsphase ist dies angebracht, längerfristig macht dies wirtschaftlich aber keinen Sinn. Die Menschen müssen für die digitale Welt, in welcher wir leben, befähigt werden. Dies reicht von der Nutzung von digitalen Services bis zu Programmierfähigkeiten innerhalb der Verwaltung. Digitalisierung ist nicht nur eine Frage der Effizienz: Sie bedeutet Inklusion und damit mehr Lebensqualität und Ermächtigung von Menschen. Beispielsweise können Menschen mit einer Sehbehinderung durch E-Voting selbständig unter Wahrung des Stimmgeheimnisses wählen und abstimmen.
Zum Abschluss: Wie gelingt es der Verwaltung, der Digitalisierung noch mehr Schub zu verleihen?
Ich empfehle das Rezept Momo: Im Buch von Michael Ende muss der Strassenputzer Beppo gigantisch lange Strassen wischen. Dies macht er alles von Hand, immer ein Besenstrich nach der anderen. Dieses Prinzip gilt auch für die Behörden: Sie müssen sich entscheiden und dann Schritt für Schritt vorwärts gehen. Ausdauer ist gefragt, besonders bei staatlichen IT-Projekten. Gleichzeitig gilt es auch, Prioritäten zu setzen und zu analysieren, wo Digitalisierung den grössten Mehrwert bringt. Nehmen wir das Beispiel der künstlichen Intelligenz: Welche Prozesse lassen sich automatisieren und bedürfen nur wenig menschlicher Intelligenz? So kann die Verwaltung rasch und effektiv an Effizienz gewinnen. Aber wie gesagt, langfristig dranbleiben ist wichtig!